Die Sucht ist flexibel

Viele unter uns können ein Datum nennen oder ihr Alter oder auch einen Anlass, bei dem sie anfingen zu trinken. Ich kann das nicht. Entweder, weil ich schon so viel getrunken habe, dass ich den Tag vergessen habe oder vielleicht auch, weil sich die Sucht eingeschlichen hat und ich den „turning point“, den Punkt, an dem der Spaß zur Sucht wurde, nicht wirklich wahrgenommen habe.

Viele Jahre dachte ich ohnehin, dass ich vor allem eine Essstörung habe, dass die Kotzerei mein einziges Problem sei. Dass ich seit ich 15 oder 16 Jahre alt war auch immer getrunken habe, fiel da irgendwie unter den Tisch. Erst mit 30 schaffte ich es aufzuhören zu kotzen. Da war ich plötzlich geheilt, denn so geht das mit den Süchten. Schwupp, sind sie weg.  – Nicht! Als ich aufhörte mich selbst zu belügen, was die Bulimie anging und versuchte, normal zu essen, verlagerte ich meine Sucht noch weiter auf den Alkohol. So konnte ich auch gut durchkommen: durch die Trinkerei hatte ich kaum Appetit und die Kalorien kamen in flüssiger Form zu mir, so dass ich zwar irgendwie unförmig wurde (Bierbauch und geschwollenes Gesicht), aber doch mein Gewicht halten konnte oder sogar noch abnahm. Noch mehr abnehmen konnte ich dann als mein bester Freund sich zu Tode gesoffen hat und ich mehr denn je Grund zum Trinken hatte.

Das hört sich jetzt so an als sei mein ganzes Leben den Bach runtergegangen bis zu diesem Punkt, aber das stimmt nur halb: mein Ich verkümmerte, meine Gefühle wurden taub, aber ich funktionierte – sowohl auf akademischer Ebene als auch im Berufsleben konnte ich immer weiter machen und Leistung bringen, so wie sich das gehörte. Zwar trank ich unter der Woche, aß so gut wie nichts und am Wochenende wurde dann noch schön durch die Nase gezogen, doch das Bild nach Außen wurde (zumindest durch meine Augen) gewahrt.

Bis es irgendwann nicht mehr gewahrt werden konnte, bis die zwei Wodka während der Arbeit und der Wein- und Bierkonsum am Abend meine heile Welt angriffen. Bis ich nicht mehr konnte oder wollte und nicht mehr funktionierte. Bis mir mein Freund ein letztes Mal sagte, Du musst in eine Klinik. Ich ging nach Hohe Mark und war nach knapp zwei Wochen wieder zurück. Geläutert und geheilt. Wie einfach das doch ging. Der Irrglaube hielt ein paar Wochen an, dann war ich wieder mittendrin. Die Sucht hört nicht einfach auf; sie wartet auf einen schwachen Punkt und dann greift sie gnadenlos an. Arbeitslosigkeit, Einsamkeit, das Gefühl nutzlos zu sein, verletzter Stolz – das sind alles Geschenke für die Sucht. Plötzlich waren da Gefühle, mit denen ich nicht umgehen konnte, das hatte ich nie gelernt. Im Rückblick war es absehbar, dass ich wieder rückfällig wurde. Ein weiteres Jahr voller Selbstlügen, Selbsthass und Ichzentriertheit musste vergehen, ehe ich mich nicht mehr zu sehr schämte erneut in die Hohe Mark zu gehen. Dieses Mal wesentlich demütiger, leiser, aber immer noch verdammt stolz und uneinsichtig.

Zufällig, weil abends ohnehin nichts los war und die Gespräche mich nervten, begleitete ich eines Abends einen Mitpatienten nach Frankfurt zum Meeting der Young People Gruppe und das war vielleicht die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe. Diese herzliche Begrüßung, das Bodenständige, das Ehrliche – ich fühlte mich von Anfang an verstanden. Ich musste mich nicht schämen, nicht für meine Alkoholkarriere, nicht für die Kotzerei und auch nicht für meine Bahnhofsviertel-Zeit. Nachdem ich Hohe Mark verlassen habe, blieb ich dabei. Ich wusste anfangs nicht, was das „Programm“ so alles mit sich bringt und als ich es einigermaßen verstanden hatte, wusste ich nicht, ob ich durchhalten würde, aber mir war absolut klar, dass hier der Ort war, an dem ich ich sein konnte, ohne Schauspielerei. Relativ schnell suchte ich mir eine Sponsorin und sie begleitet mich momentan durch den 8. und 9. Schritt des Programms.

Nicht immer strahlt die Sonne und ich kann das Leben nicht dauernd genießen, aber ich weiß, wo ich nie wieder hin will und was ich nie mehr erleben will. Und ich weiß auch, dass noch viel Luft nach Oben ist; ich bin noch keine zwei Jahre trocken und möchte noch sehr viel mehr lernen, eine bessere Verbindung zu meiner Höheren Macht aufbauen, noch gelassener werden.

Ich dachte immer, wenn ich aufhöre zu trinken, dann sei der Großteil geschafft, aber das war ein Trugschluss. Ohne Konsum kommen so nach und nach die Gefühle und das kann sehr anstrengend sein; ich erfahre Dinge über mich und meine Befindlichkeiten, die ich früher einfach weggetrunken habe. Plötzlich bin ich wieder verletzlich und das kann richtig weh tun. Und, das hört sich jetzt vielleicht komisch an, das ist gut so. Genauso intensiv wie ich teilweise Trauer empfinde, kann ich mich freuen und kann glücklich sein – das konnte ich jahrzehntelang nicht. Ich lerne, ich wachse und ich werde immer zufriedener – dank der Gruppe, dank des Programms und dank der Verbindung zu meiner Höheren Macht.

Obgleich ich immer noch oft zu stolz und zu wenig demütig oder dankbar bin, habe ich durch die Young People einen Weg für mich gefunden, den ich nicht mehr verlassen will. Alleine hätte ich das nicht geschafft, weder überhaupt trocken zu bleiben, ohne wieder in die Bulimie zu verfallen, noch dieses Loch zu füllen, dass sich durch die Abstinenz auftat. Meine Sponsorin hilft mir, sie nimmt mich bei der Hand, wenn es mir schwerfällt, meine eigenen Defizite zu sehen, aber auch, wenn ich drohe in einem undefinierbaren Gefühls-Chaos zu versinken. Die Gruppe ist mittlerweile meine Wunschfamilie und das sogenannte 12-Schritte-Programm hat sich zu einem Lebensführer entwickelt. Egal, ob ich gerade richtig glücklich oder unsäglich traurig bin, meine Höhere Macht ist da und ich weiß, ich bin nicht mehr allein.

Doro