Rückfall – Komm wieder!
Zwei Minuten zuvor saß ich noch auf der Couch, mit dem Gefühl, dass alles unter Kontrolle war, und schaute eine TV-Serie an. Die vergangenen Tage waren voller Alarmsignale gewesen, die ich ignoriert hatte. “Sei keine Memme,” sage ich mir, “Du kannst das hier durchstehen.”
Das hier waren heftige Gedanken übers Trinken, immer und immer wieder, steigende Anspannung, der wortwörtliche Drang zu trinken. Ich bin von dem Gedanken zu trinken besessen.
Wäre ich achtsamer gewesen, hätte ich es viel früher bemerkt. Aber zu oft habe ich die unmittelbare Gefahr erst bemerkt als es schon spät war – und damit meine Chancen auf Hilfe reduziert.
Etwas in meinem Kopf schaltet plötzlich um, ich stehe von der Couch auf und ziehe meine Schuhe an. Dies passiert in einer Art Trance, die ich Autopilot-Modus nenne. Mein Alkoholismus lenkt mich jetzt, mit wenig Gegenwehr meinerseits.
Ich habe die Grenze übertreten und bin jetzt im festen Griff von etwas, was ich nur puren Wahnsinn nennen kann.
Hatte ich diese Grenze nicht übertreten, hätte ich meine Werkzeuge anwenden können:
- jemanden aus dem Programm anrufen und ERZÄHLEN was gerade passiert
- meine Höhere Macht um Hilfe und Schutz bitten
- mich in ein Meeting schleppen und ERZÄHLEN was gerade los ist
um nur ein paar zu nennen.
Aber jetzt ist es zu spät, mein Alkoholismus hat mich überzeugt, dass ich trinken will, nein, muss, und der Anteil in meinem Kopf, der für klares Denken zuständig ist, ist nicht mehr zugänglich.
Mit Tunnelblick eile ich aus dem Haus und laufe zum Supermarkt in immer eiligeren Schritten, weil mein Körper nach dem Alkohol verlangt.
Dies ist nicht die Gier wie wir sie in AA verstehen, diese würde losgehen sobald ich trinke. In diesem Augenblick ist mir alles egal. Ich betrete den Supermarkt.
Jetzt, wo mein Denken versteht, dass es Alkohol geben wird, spielt mein Herzschlag verrück und meine Hände zittern leicht.
“Tu das nicht! Wirf deine Genesung nicht weg!” denke ich noch, aber ohne Alkohol aus dem Laden zu gehen ist undenkbar.
Zuhause angekommen, das erste Glas. Mein ganzer Körper scheint auszuatmen. Ruhe. Endlich Ruhe! Jetzt wo der unmittelbare Durst gestillt ist, fällt mir ein, dass ich Mist gebaut hab. Ich denke an AA und meine Freunde dort. Wie ich alle schon wieder enttäusche. Ich denke an meinen Job, meinen Partner. Und dann beginne ich mich so schnell wie möglich zu betrinken, damit ich nicht denken muss. Oder fühlen. Oder existieren.
Obwohl ich in AA gelernt und selbst gesehen hab, dass das Trinken alles immer schlimmer macht, nie besser, bin ich wieder erstaunt wie schnell alles den Bach runtergeht. Ich bilde mir doch ein, dass diesmal alles anders wird. Aber am Ende habe ich nur eine Gedächtnisslücke von der Größe eines Bergs, und im Laufe der nächsten Tage muss ich schmerzhaft erfahren was ich so angestellt hab…
Bei jedem Rückfall sagten mir meine Freunde in AA ich solle wiederkommen. Dazu habe ich Zeit gebraucht und habe mich auch geschämt wieder zu AA zu gehen. Aber nach immer kürzer werdenden Trinkphasen gebe ich auf und komme wieder. Inzwischen habe ich erkannt, dass ich keine Wahl habe. Ohne AA werde ich mich tottrinken, und der sprichwörtliche Wahnsinn meldet sich recht schnell wenn ich trinke.
Das letzte Mal trank ich nur etwa einen Monat, und habe mich fast umgebracht. Ich kann nicht trinken. Ich kann auch nicht nicht-trinken. Mein ganzes Dasein ist ein Desaster. Machtlosigkeit? Meisterbarkeit? Ich denke schon.
Heute bin ich trocken. Ich mache die täglichen Dinge, die mir mein Sponsor empfiehlt. Jede Kleinigkeit, die ich im Sinne der Prinzipien von AA tue, sind kleine Versicherungen gegen den nächsten Drink. Ich weiß nicht was Morgen sein wird, aber höchstwahrscheinlich werde ich meine Höhere Macht um einen sicheren und trockenen Tag bitten, und darum seinen Willen zu tun. Das ist die beste Option, die ich habe. Und glaub es oder nicht, ich freue mich auf morgen.