Mein Name ist Jessica und ich bin Alkoholikerin.
Eine Alkoholikerin zu werden, war das Letzte, was ich wollte. War doch meine Mutter die Alkoholikerin, der ich all die Schuld für mein verpfuschtes Leben gab.
Meine Kindheit war geprägt durch Unsicherheit, Angst und Gewalt. Meinen Vater, ein in Deutschland stationierter Soldat, durfte ich nie kennenlernen. Zum Vater meines kleinen Bruders habe ich keinerlei emotionale Bindung. Was ich erlebe, sind Streitereien, Verlust der Wohnung, ein Messi ähnliches Chaos zu Hause.
Dass diese Zustände nicht normal sind, nehme ich bewusst wahr, als ich in die Grundschule komme. Ab da an, bin ich zerfressen von Neid auf die anderen Kinder, die ein traumhaftes zu Hause zu haben scheinen und ganz andere Dinge mit ihren Eltern mache als ich. Ich verbringe Abende in der Kneipe mit meiner Mutter und meinem Bruder. Während sie sich betrinkt, spielen wir Billiard oder Dart. Uns kennen dort alle. Eines schwöre ich mir, niemals eine Alkoholikerin zu werden!
Nachdem meine Mutter aufhört zu arbeiten, wird es für mich zu Hause immer schlimmer. Ich übernehme mit 10 schon Einkäufe, Botengänge zur Bank und sorge zu Hause für etwas Ordnung. Teilweise ekel ich mich, in solchen Zuständen hausen zu müssen. Inzwischen werde ich in der Schule gemobbt, dafür, in Sozialwohnungen zu leben. Ich bekomme heftige Migräneanfälle, die mir den Grund liefern, nicht mehr in die Schule zu müssen. Funktioniert das nicht, schwänze ich einfach. Es wird eh nicht auffallen, da meine Mutter keine Klassentreffen besucht.
Als ich eines Tages nach Hause komme und unsere Wohnung schon fast komplett von einem Gerichtsvollzieher samt Gefolge ausgeräumt ist und meine Mutter darauf mit der Androhung ihres Selbstmordes reagiert, gehe ich das erste Mal gezielt los, um mich volllaufen zu lassen.
Ich hasse mein Leben. Ich hasse, ständig vor meiner Mutter Angst zu haben und vor ihren Ausrastern, die aus Schlägen und Verwüstung meines Zimmers bestehen. Die Nacht verbringe ich dann damit, das Chaos in meinem Zimmer zu beseitigen, vorher darf ich nicht ins Bett. Ich hasse es, Angst zu haben, vor ihr, davor, ob wir morgen noch ein zu Hause haben ….. ich hasse einfach alles und jeden.
Ab dem ersten Schluck fühle ich mich anders, besser. Ich fühle mich endlich nicht mehr schwach. Ab dem Tag bin ich jedes Wochenende und zu jeder sich bietenden Gelegenheit am Saufen. Meine Mutter interessiert es wenig. Zur Schule gehe ich kaum noch. Ich beginne zusätzlich mit Drogen und finde im Speed meine Droge. Ich fliege von der Schule, werde schwanger mit 18 und bin mit 19 Mutter. Ich schaffe es in der Schwangerschaft aufzuhören und denke, die Liebe zu meinem Sohn wird mich clean und trocken halten. Dem ist leider nicht so. Nach dem Abstillen beginne sofort wieder Flaschenweise Wein zu trinken. Das ist auch wieder der Einstieg mit Drogen.
Auch als mein Sohn mir mit 23 weggenommen wird, stoppt das nicht meinen Konsum. Im Gegenteil. Erst ein gewalttätiger Konflikt mit meinem Partner, zwingt mich dazu, wieder bei meiner Mutter aufs Sofa zu ziehen. Wir verschaffen mir einen Platz in einer Entgiftung, gefolgt von Übergangseinrichtung, Therapie und BWG.
Als ich aus der Betreuung raus bin und zum nächsten Mann flüchte, geht alles wieder von vorne los. Ich denke, ich will einfach nicht aufhören, aber wenn ich es wirklich wollen würde, könnte ich. Was für ein fataler Trugschluss.
Da ich mich immer ungeliebt und ungewollt gefühlt habe, brauchte ich immer einen Partner an meiner Seite. Ich flüchtete mich von Partner zu Partner, von Stadt zu Stadt, doch nichts half. Ich muss nicht erwähnen, dass alle genauso, wenn nicht sogar noch süchtiger waren als ich. Das lieferte mir auch immer einen Grund zu denken, dass mein eigener Konsum ja nicht so schlimm ist wie der meiner Partner.
Meine letzte Partnerschaft führte mich dann ans Heroin. Da mein Partner auf der Nadel war und ich es „nur“ gezogen habe, dachte ich auch hier, es sei nicht so schlimm, bis ich meinen ersten richtigen Entzug erlebte. Die Falle war zugeschnappt.
Ich verdanke es meinem letzten Partner, dass ich den Willen oder besser die Bereitschaft bekam, etwas zu ändern. Kurz vor Ostern bekam ich einen Anruf seines Vaters, dass er versucht habe sich umzubringen, als er bei seiner Familie war. Es war kurz vor Ostern und mein Sohn war bei mir zu Besuch. Ich war total dicht, als ich den Anruf bekam, hatte aber zugleich den klarsten Moment seit Jahren. Ich wusste, wenn ich jetzt nichts ändere, kann ich mich auch gleich umbringen. ODER ich bewege meinen Arsch in die Meetings, die ich während meiner Therapie kennengelernt habe.
Ich wollte nicht sterben. Es war ganz klar, ich musste in die Meetings. Also entzog ich zu Hause (was ich niemandem empfehle) und schleppte meinen schwitzenden und zugleich zitternden Körper jeden Tag in ein Meeting. Egal wie es mir ging, manchmal sogar zweimal täglich, weil das das Einzige war, was mich davon abhielt, wieder zu trinken und dann den Kreislauf von vorn zu beginnen.
Die beste Entscheidung war für mich, mir eine Sponsorin zu suchen und in eine Gruppe zu gehen, in der die Menschen glücklich zu sein scheinen. Und das habe ich der Young People Group gefunden. Es ist mein zweites zu Hause, ohne das ich heute nicht mehr am Leben wäre. Ich bin jetzt bald 5 Jahre trocken und clean, was ein Wunder ist. Tag für Tag. Ich durfte mich kennenlernen, wie ich bin ohne Alkohol und Drogen. Mein Sohn durfte mich mit 12 Jahren das erste mal nüchtern erleben und hat seitdem eine stabile Mutter, die zuverlässig ist und einfach für ihn da ist. Ich konnte vom Hass gegenüber meiner Mutter loslassen und habe heute eine liebevolle Mama, die ich mir damals so sehr gewünscht habe. Mit 33 habe ich eine Ausbildung angefangen und diese auch erfolgreich abgeschlossen. Das sind alles Dinge, die ich niemals für möglich gehalten hätte und das alles beruht auf den täglichen Empfehlungen, meiner Stammgruppe, meiner Sponsorin, meinem Dienst, dem Programm der Anonymen Alkoholiker. Heute kann ich das sagen, ohne Groll auf meine Mutter oder auf mich.
Ich verstehe endlich, was ich in der Vergangenheit nie verstand. Wie sich ein Leben wirklich anfühlen kann. Ich hasse das Leben nicht mehr oder fühle mich vom Leben betraft. Das Leben will einfach nur gelebt werden und mit meiner Gruppe und dem Programm kann ich das.
Mein Name ist Jessica und ich bin Alkoholikerin.